Blick über den Tellerrand

Was können wir von der Völkerwanderung lernen?

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In den Debatten um heutige Migrationen wird die Völkerwanderung am Ende der Antike wieder häufig als (meist warnendes) Beispiel verwendet. Im »Blick über den Tellerrand« gibt Prof. Dr. Walter Pohl einen Überblick über historische Forschungen und Diskussionen zum Thema. Wie kam es zu den Migrationen großer Gruppen ins Römische Reich, und was waren ihre Folgen? Haben sie den Fall Roms ausgelöst? Und wie kann Geschichte helfen, in der aktuellen Debatte sachlich zu argumentieren?

Tellerrand Januar 2018
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Über Jahrhunderte hat man die Schreckensbilder und Stereotype der Völkerwanderung gepflegt, in Filmen, Literatur und Kunst: angebliche Horden von Barbaren, die Rom überrennen und ein Weltreich zu Fall bringen. Der vermeintliche Kampf zwischen Wilden und Zivilisation. Nun werden diese Bilder wieder aufgegriffen – angesichts der Flüchtlinge spricht so mancher von einer »neuen Völkerwanderung«. Das Thema hat neue Aktualität gewonnen und wird von rechten Gruppen genutzt und ideologisch verbogen.

Im Tellerrand-Vortrag gibt Prof. Dr. Pohl einen Abriss über diese Stereotypen und Bilder, biegt sie wieder zurecht und macht deutlich: »Das Problem besteht schon in der Vorstellung von den Völkern. Nämlich darin, Völker und nicht einzelne Menschen als handelnde Subjekte der Geschichte zu sehen«. Denn die Völker wanderten nicht aus und auch Eroberungen von Migranten blieben die Ausnahme.

Zerfall des Römischen Reiches und komplexe Ursachenforschung

Die Migrantenbewegungen des vierten bis sechsten Jahrhunderts automatisch mit dem Untergang des Römischen Reiches zu assoziieren, schafft ebenso ein falsches Bild. Im Gegenteil, Roms Erfolg lag nicht zuletzt auch daran, dass die Römer Fremde und Unterworfene zu integrieren wussten.

Die Barbaren für den Zerfall des Römischen Reiches verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Die Ursachenforschung sei sehr komplex, so der renommierte österreichische Historiker und habe in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. »Das Problem der Wissenschaften: Umso komplexer die Historie und Zusammenhänge, umso mehr verliert man die Öffentlichkeit«, resümiert Pohl.

Dass ein Imperium zerfällt, geschieht aus der eigenen Dynamik heraus. Dass »große Persönlichkeiten« wie Alarich, Attila, Theoderich oder Chlodwig als Ausgangspunkt dienen, ist Ausdruck einer exemplarischen Darstellungsweise. Das gemeinsame Feindbild der Hunnen, der »Feinde aus dem Osten«, konnte sogar die Gesellschaft des Römischen Reiches kurzfristig nochmals zusammenhalten.

 

Geschichtswissenschaften tragen zur Versachlichung bei

Pohls Fazit: Wir können aus der Vergangenheit lernen – wenn wir sie nur richtig interpretieren. Denn auch heute gilt, Gesellschaften sind meist wenig bereit, wahrgenommene Veränderungen auf die eigene Dynamik zurückzuführen und komplexe Zusammenhänge zu erfassen. Lieber macht man Fremde dafür verantwortlich und simplifiziert. Ohne eine Abstraktionsebene, die die Gesellschaft als Ganzes versteht, ist eine Lösung unmöglich.

Pohl zieht in seinem Schlusswort dabei nur mögliche Parallelen in Verhalten von Gesellschaftsgruppen und versucht keinesfalls Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten. Trotzdem ist er überzeugt: »Die Geschichtswissenschaften können dazu beitragen, die aktuelle Debatte zu versachlichen«.

 

Zum Referenten und zur Vortragsreihe »Blick über den Tellerrand«

Walter Pohl ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Wien und Sprecher des Spezialforschungsbereichs »Visions of Community« beim österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF). 2004 wurde er mit dem Wittgenstein-Preis, 2010 mit einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats ausgezeichnet. Er forscht u.a. zu ethnischen Prozessen und Identitäten zwischen Antike und Mittelalter, »Völkerwanderung« und anderen Migrationen sowie zur Geschichtsschreibung und ihrer Überlieferung.

Einmal im Monat öffnet das ITWM die Türen für alle Interessierten und lädt beim »Blick über den Tellerrand« dazu ein, gemeinsam den Horizont zu erweitern. Die interdisziplinäre Vortragsreihe des Felix-Klein-Zentrums für Mathematik präsentiert unterschiedliche Referenten mit verschiedensten Themen. Jeder ist herzlich eingeladen zuzuhören und mitzudiskutieren. Der Eintritt ist frei.

 

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