Interview mit Prof. em. Dr. Helmut Neunzert

»Es ist ein Privileg, im Geiste noch etwas am Fraunhofer ITWM 'mitspielen' zu dürfen.«

Interview / 28. November 2022

Der Bezirksverband Pfalz verleiht jedes Jahr den Zukunftspreis Pfalz für herausragende Innovationen, Höchstleistungen in Forschung und Wissenschaft sowie nachhaltige Entwicklung unserer Region. Mit dem Lebenswerkspreis würdigt er Personen, die sich zeitlebens um diese Bereiche verdient gemacht haben. 2022 geht eine dieser Ehrungen an Prof. em. Dr. Helmut Neunzert, mit dem unser Institut in ganz besonderer Weise verbunden ist. Er war Mitbegründer und Leiter des Fraunhofer ITWM.

Lieber Prof. Neunzert, Sie haben die Mathematik in Kaiserslautern wesentlich mitgeprägt und die Weichen für unser Institut gestellt; unter anderem dafür erhalten Sie heute den Lebenswerkspreis des Bezirksverbandes Pfalz. Welche Hürden mussten Sie überwinden auf dem Weg zur Institutsgründung?

Unsere erste Idee, ein Fraunhofer-Institut zu gründen, hatte ich um 1985 zusammen mit dem damaligen Präsidenten der TU Kaiserslautern, Dieter Maaß: Unsere Arbeitsgruppe am Fachbereich Mathematik war in Deutschland sehr aktiv im Bereich »Mathematik für die Industrie« und Fraunhofer bedeutete ja »Wissenschaft für die Industrie«. Aber die Fraunhofer-Gesellschaft schüttelte sofort den Kopf: Mathematik sei zu abstrakt und passe nicht zu Fraunhofer.

1995 wollte das Land Rheinland-Pfalz, das ja immer zur Fraunhofer-Gesellschaft finanziell beitrug, auch ein Institut beheimaten und bestellte eine Suchungskommission, die uns dann, als eines der drei möglichen Institute, fand und benannte. Ich war 59 und deshalb zögerlich, aber »meine jungen Leute« – also meine Arbeitsgruppe – sahen eine große Chance. Deshalb stimmten wir mit großer Begeisterung zu, das Abenteuer einzugehen. Wieder war der Fraunhofer-Vorstand skeptisch, aber der Landeswissenschaftsminister Jürgen Zöllner glaubte an uns und handelte mit Fraunhofer eine Probezeit von fünf Jahren aus (die das Land finanzierte). »Meinen jungen Leuten«, der Auswahlkommission und dem Minister verdanken wir die Gründung des Instituts, das ich dann während der Probezeit leitete und zur endgültigen Aufnahme führte. Das waren die arbeitsamsten Jahre meines Lebens.

Sie haben sicherlich viele Menschen inspiriert; aber wer hat Sie inspiriert?

Im Studium war das der Physiker Werner Heisenberg, der mich als Studenten lehrte, dass auch für einen berühmten Wissenschaftler keine Frage von Studierenden zu dumm ist und dass sich in langen Diskussionen mit Studierenden spannende Ideen entwickeln können. Später der pakistanische Physik-Nobelpreisträger Abdus Salam, der mir als Leiter des International Center for Theoretical Physics in Triest klarmachte, dass auch Entwicklungsländer voller junger, begeisterter Wissenschaftler sind, die von uns, aber auch wir von ihnen viel lernen können. In den achtziger Jahren gab es in Europa etliche Mathematiker auf einem ähnlichen Weg hin zur »Industrial Mathematics« wie wir, einige auch schon etwas voraus. Und schließlich haben mich am meisten die jungen Leute meiner Arbeitsgruppe inspiriert, die sich mit so großer Begeisterung auf den unsicheren Weg machten.

Verleihung der Zukunftspreise des Bezirksverbands Pfalz Preisträger:innen — © view / Reiner Voß
Verleihung der Zukunftspreise des Bezirksverbands Pfalz: Die Preisträger:innen 2022 (von links): Jonas Spieler, Julian Bender, Hannah und Jule Seidel, Mario Schweikert, Maria-Theresa Licka, Prof. Dr. Helmut Neunzert und Dr. Wolfgang Reiser mit dem Bezirkstagsvorsitzenden Theo Wieder.

Welche Ereignisse prägten Ihr Leben, beruflich wie privat?

Das ist natürlich eine schwierige Frage. Vorab: Am meisten hat mich geprägt, dass ich 1957 meine Frau kennenlernte und mit ihr seit 65 Jahren zusammenlebe; dass meine zwei Söhne und eine Enkelin und vier Enkel geboren wurden. Dass ich 42 meiner 86 Jahre in der Pfalz, 30 Jahre in Bayern und 14 Jahre in der Region Aachen verbrachte, wobei ich etwa ein Fünftel der 42 Pfalzjahre im Ausland verbracht habe.

Prägend waren aber auch drei spezielle Erfahrungen:

Zum Ersten das Kriegsende, die totale Zerstörung des Hauses, in dem ich mit meiner Mutter lebte, das Ausgebuddeltwerden nach zwei Stunden. Dann die späte Heimkehr meines Vaters als zwar eher passives, aber doch langjähriges Parteimitglied. Und das wachsende Bewusstwerden, dass Deutschland eine große Schuld auf sich geladen hatte, sodass ich eine Verbesserung des deutschen Rufes als Lebensaufgabe sah.

Als Zweites meine Lehrzeit als Wissenschaftler am Forschungszentrum Jülich. Ich hatte ja »sehr reine Mathematik« in München studiert und wurde in Jülich kopfüber in die mathematische Physik gestürzt. Dort wurde mir klar, wie wichtig diese »angewandte Mathematik« auch für moderne Technologien ist. Es wurde mir auch klar, dass die klassische Universitätsausbildung in Mathematik diesen wichtigen Aspekt der »Mathematik als Technologie« nicht in den Blick nimmt. Das wollte ich, wenn ich je an eine Universität zurückkehren sollte, besser machen – und das habe ich dann in Kaiserslautern auch wirklich versucht.

…wohin Sie 1974 als Professor für »Mathematische Grundlagen für Physik und Technik« wechselten…

Wir hatten da Projekte, in denen wir herausfinden wollten, welche mathematischen Neuerungen in der Praxis besonders effektiv wären. Wir reisten als »Mathematikvertreter« durch die deutsche, die europäische, auch die indische Industrie. Die Ergebnisse dieser Projekte legten den Gedanken eines mathematischen Fraunhofer-Instituts schon in den19 80er-Jahren nahe.

Und zum Dritten die Begegnung mit dem schon erwähnten pakistanischen Nobelpreisträger Abdus Salam, der mir erklärte, wie viele begeisterte, intelligente junge Wissenschaftler aus den Entwicklungsländern nach einer besseren Ausbildung streben. Das passte gut zu meinem schon erwähnten Bestreben, das Bild Deutschlands in der Welt zu verbessern. Weil auch da »meine jungen Leute« mit Begeisterung mitmachten, gelang ein Aufbaustudium »Industrial Mathematics«, an dem insgesamt fast 200 Studierende aus Entwicklungsländern zwischen 1988 und 2000 mit Erfolg teilnahmen, von denen viele bis heute enge Beziehungen zu Kaiserslautern aufrechterhalten.

Wann stand fest, dass Sie Mathematiker werden wollen?

Nach der Schule, weil mir das Fach am meisten Spaß machte und mir relativ leichtfiel. Außerdem: So viel Auswahl an möglichen Berufen gab es 1954, neun Jahre nach Kriegsende, wirklich nicht. Warum also nicht Mathelehrer?

Was geben Sie Studierenden und jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit auf den Weg?

Ganz kurz: Mathematik macht unglaublich viel Freude, weil man seine eigene Kreativität ausprobieren kann. Mathematik ist aber auch ein sicherer Weg in einen interessanten Job, wenn man sich ein wenig bemüht, die unzähligen, mathematisch lösbaren Probleme zu suchen, die es in der Praxis gibt.
Und schließlich: Kommen Sie nach Kaiserslautern – an keiner anderen Uni in Deutschland können Sie schon während des Studiums am eigenen Leib erfahren, wie man Mathematik im späteren Beruf macht. An keinem anderen Arbeitsplatz können Sie so viele neue mathematische Ideen zur Lösung echter Probleme beobachten und selbst entwickeln wie am Fraunhofer ITWM.

Sie leben seit 2016 am Chiemsee. Welche Verbindungen haben Sie noch zu Kaiserslautern?

Sehr viele, jede Woche sicher mehr als zweimal, am Telefon, via E-Mail, seltener auch durch Besuche von ITWM-Mitarbeitern. Es ist eine Freude, das Institut wachsen zu sehen. Es ist mir ein Bedürfnis, neue Lösungsideen kennenzulernen. Ich freue mich, wenn neue Mitarbeitende sich vorstellen. Ich studiere den Jahresbericht und mache mir mit Sorgen, wenn ein Projekt nur langsam vorangeht. Ich will verstehen, wie ein Problem gelöst wurde. Es ist ein Privileg, in einer wunderschönen Gegend zu leben und im Geiste noch etwas am Fraunhofer ITWM »mitspielen« zu dürfen.

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