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Wenn bei Kraftfahrzeugen unerwartet früh oder auffällig viele Bauteile in einem kurzen Zeitraum ausfallen, hat das mit der aktuellen Corona-Situation vieles gemeinsam: Um den Anlass zur Sorge zu bewerten, fehlt es an Daten. In der Statistik ist das als Missing-Data-Problem bekannt. Es folgt eine Gegenüberstellung der unterschiedlichsten Datenlücken im Automobilbau und in der Corona-Situation.
Disclaimer: Wenn im Folgenden KFZ-Bauteile mit Menschenleben verglichen werden, mag das geschmacklos anmuten. Zum einen kann jedoch ein Ausfall eines sicherheitsrelevanten Bauteils auch sehr schnell ein Menschenleben gefährden, zum anderen ist die neutrale Statistik oft genau das richtige Mittel, um zu beurteilen, welche Maßnahmen verhältnismäßig sind. Weiterhin bin ich weder Arzt bzw. Virologe, noch habe ich jemals am Robert Koch-Institut gearbeitet. Bitte unterwerfen Sie Ihre Entscheidung, wie viele Nudeln Sie kaufen werden, daher nicht diesem Artikel.
Wie hoch ist die Sterblichkeitsrate beim Corona-Virus denn nun? Die gemeldeten Zahlen schwanken zwischen 0,2 Prozent und 5 Prozent. Sagt man uns etwa bewusst nicht die Wahrheit, um eine Panik zu vermeiden? So einfach ist es leider nicht. Möglicherweise belügt Sie ausgerechnet derjenige, der Ihnen eine sehr hohe Zahl nennt. Schauen wir uns die Situation genauer an und vergleichen sie mit den Garantiefällen an einem KFZ-Bauteil.
Linksbündig sind wir ein Automobilhersteller und sorgen uns um ausfallende Bauteile.
Rechtsbündig sind wir Bürger*innen und denken über Infektionen und Todesfälle nach.
Zentriert ziehen wir ein Fazit.
Angenommen, wir sind ein Automobilhersteller und bringen ein neues Bremssystem auf den Markt. Leider waren wir nicht sorgfältig, und manche (aber eben nicht alle) ausgelieferten Bremsen werden einen Fehler haben. Dieser äußert sich darin, dass die Bremse innerhalb der ersten Monate plötzlich nicht mehr reagiert. Es könnte zu Unfällen kommen. Wir haben 10.000 Fahrzeuge verkauft. Wie oft kommt es nun zu einem tödlichen Unfall durch eine versagende Bremse? Das hängt zum einen davon ab, wie viele Bremsen tatsächlich betroffen sind, und zum anderen, wie oft die betroffenen Fahrzeugbesitzer in der Lage sind, trotz ausfallender Bremse glimpflich aus der Situation zu kommen.
Wie viele Menschen haben sich denn nun infiziert und wie viele der Infizierten überstehen die Infektion mit nur leichten oder mittleren Beschwerden?
Als Hersteller kenne ich die Anzahl der produzierten Fahrzeuge und die bisher ausgefallenen Bremsen. Das haben mir die Vertragswerkstätten gemeldet. Sagen wir, es waren in Deutschland 10 Stück, davon 1 mit einem schweren Unfall. Das macht eine Betroffenheitsquote von 10/10.000 = 0,1 Prozent und eine Unfallquote von 0,01 Prozent über alle Bauteile. Bezieht man sich nur auf die betroffenen zehn Bauteile, so konnte einer davon den Unfall nicht verhindern. Damit kommt es in zehn Prozent der betroffenen Fälle zu einem Unfall. Das klingt viel schlimmer als die Gesamt-Unfallquote von 0,01 Prozent von eben. 1.000-fach schlimmer, um numerisch exakt zu sein.
Das Robert Koch-Institut (und bitte nur das sollte Ihre Quelle sein) meldete am 9.03.2020 insgesamt 1.139 bestätigte Infektionen in Deutschland und davon 2 Todesfälle. Das führt zu einer Sterblichkeit von 0,17 Prozent bei den (bestätigten) Betroffenen. Beide Todesfälle stammen aus Nordrhein-Westfalen, wo es alleine 484 Infektionen gibt. Dort liegt die Sterblichkeit also bei 0,41 Prozent. Mehr als doppelt so hoch.
Das Problem bei diesen Zahlen: Sie kommen sehr früh! Wir wissen noch nicht, wie viele der übrigen 9.990 Fahrer noch ein Bremsversagen erfahren werden. Weiterhin wissen wir nicht, wie viele dann in der Lage wären, den Unfall abzuwenden. Hier ist nun vieles vorstellbar. Vielleicht tritt das Versagen – wenn es überhaupt auftritt – sehr früh auf, und alle übrigen Fahrzeuge haben dieses kritische Alter bereits überschritten. Dann bliebe es bei einem Unfall von 10.000. Vielleicht sind die zehn gemeldeten Probleme aber fast ausschließlich Vielfahrende. Dann gibt es potentiell noch unzählige weitere Fahrzeuge, die demnächst erst in den Altersbereich kommen, in dem das Versagen – wenn überhaupt – typischerweise auftritt. Die zehn könnten dann enorm ansteigen. Wenn das keine Vielfahrenden sind, sondern vielleicht Menschen mit wenig Fahrpraxis, kann auch die Unfallquote weiterhin enorm steigen. Andererseits: Sollten das keine Vielfahrenden sein, sinkt vielleicht auch der Autobahnanteil drastisch ab und somit auch die durchschnittliche Geschwindigkeit und die Brisanz einer ausfallenden Bremse. In diesem Fall würde die Anzahl der Unfälle weniger stark steigen als die Anzahl der betroffenen Fahrzeuge.
Sie sehen: Wenn man früh zwei kleine Zahlen durcheinander dividiert, kann daraus alles Mögliche resultieren. Ob die berechnete Quote dann um ein Vielfaches zu groß oder zu klein ist, kann nur eine Analyse der bisherigen Daten im Vergleich mit dem Gesamtmarkt zeigen (also z.B. Vielfahrenden-Anteil, Aufteilung auf Modellreihen und Märkte). Die Techniken, die man dann verwendet, ähneln denen der Wahlprognose bei Bundestagswahlen. Am Anfang schwanken die Zahlen noch sehr stark; dann erst stabilisieren sie sich allmählich.
Zwei Tote von 1.139 Infektionen würden – linear hochgerechnet – 145.373 Toten in Deutschland entsprechen. Wie gesagt »würden«. Aus Sicht der über 82 Millionen Deutschen ist zwei fast null. Hier kann man auf alles Mögliche hochrechnen. Man könnte nun spekulieren, dass einige der 1.139 Infizierten ja noch sterben könnten. Ziemlich sicher haben wir noch gar nicht alle Infektionen erfasst, die es bereits gibt. Geschweige denn die noch folgenden. Vielleicht waren das bisher nur junge reiselustige Menschen, die es jetzt älteren Menschen mit nach Hause gebracht haben. Gleichzeitig wissen wir nicht, wie viele Menschen sich infiziert haben, und dann aber mit geringen Symptomen, oder gar nicht in eine Arztpraxis sind, weil sie es für einen Schnupfen hielten. Die Anzahl der Genesungen übersteigt bereits teilweise die Anzahl der Neuinfektionen.
Sie sehen: Man kann die finale Todeszahl auf jeden Wert zwischen 14.500, 145.373 oder 1,45 Millionen rechnen, abhängig davon, welche Anzahl man gerne hätte.
In beiden Fällen ist der frühe Zeitpunkt der größte Feind der ehrlichen Hochrechnung. Diese Form von Missing-Data-Problem kann seriös nur durch auf diesem Gebiet erfahrene Statistiker*innen bearbeitet werden. Neben der Erfahrung braucht man viele weitere Informationen über die Subpopulation der bisher Betroffenen und den Vergleich zur gesamten Population. Beide Voraussetzungen, die Erfahrung und die Daten, hat keine Boulevard-Zeitung und kein Social-Media-Influencer.
Wagen wir den Blick in andere Märkte. Land A meldet uns zehn Unfälle aus 900 bekannten Ausfällen. Land B immerhin drei Unfälle bei acht gemeldeten Bremsausfällen. Land A ist ein großer Markt, und hierher wurden auch 50.000 Bauteile geliefert. Weil die neue Bremse zuerst in diesem Markt ausgeliefert wurde, haben die Fahrzeuge dort bereits ein hohes durchschnittliches Alter erreicht. Daher glauben wir, dass die Quote der betroffenen Bauteile mit 900/5.000 = 1,8 Prozent belastbar ist. Weiterhin errechnen wir eine Unfallquote von 50/900 = 5,55 Prozent innerhalb der betroffenen Bauteile und 10/50.000 = 0,02 Prozent über die gesamte Population. Würde sich diese Quote auf unser Land übertragen (aktuell 0,01 Prozent ausfallende Bremsen), wäre nur noch ein weiterer Unfall zu erwarten.
Was machen wir mit den drei Unfällen aus acht gemeldeten Fällen, also 37,5 Prozent, in Land B? Da dies nur ein akademisches Beispiel ist, lade ich Sie hier zum Spekulieren ein (anders als beim realen Corona-Fall)! Sollen wir diese Zahl jetzt auch auf unser Land übertragen? Welche Möglichkeiten fallen Ihnen ein, unter denen sich diese Zahl von 37,5 Prozent panikfrei erklären lässt? Ein paar Anregungen gibt es am Ende des Textes.
China hat bei 80.735 Infektionen 3.136 Todesfälle gemeldet, was eine Sterblichkeit von 3,88 Prozent der Betroffenen ergibt. Italien meldet hingegen 460 Todesfälle bei 7.375 Infektionen (auch hier: Zahlen des Robert Koch-Instituts vom 09.03.2020). Das sind 6,23 Prozent Sterblichkeit. Wieso ist die Sterblichkeitsrate in Italien 36-mal so hoch wie in Deutschland und nicht ganz doppelt so hoch wie in China? Diese Übung ist dem/r geneigte/n Leser*in überlassen. Haben Sie eigentlich Ihre Übungsaufgabe zur Bremse in Land B schon gemacht?
Starten wir nun einen Massenrückruf und stoppen sofort die Produktion des Bauteils? Natürlich ist jeder schwere Unfall einer zu viel. Jetzt gilt es also, auf die Situation vorbereitet zu sein und alle Fahrzeughalter transparent zu informieren. In frühen Phasen sind präzise Aussagen auf Grund eines natürlichen Missing-Data-Problems nur schwer möglich. Es bedarf viel statistischen Knowhows. Parallel dazu muss durch Experten sichergestellt sein, dass die Datenerhebung zuverlässig durchgeführt wird. Melden mir die Werkstätten aller Länder alle getauschten Bremsen? Welche davon waren wirklich unserem Fehler unterworfen, welche haben nur gequietscht? Aber auch: Wurden einige Unfälle der jüngeren Vergangenheit vielleicht fälschlich auf eine andere Ursache zurückgeführt?
In jedem Fall sollte der Herstellende die Motorpresse und alle Blogger*innen des Landes zur Besonnenheit aufrufen. Zu Wort kommen sollten nur Expert*innen und Statistiker*innen aus der Automobilproduktion, welche die Daten aus allen Ländern korrekt interpretieren und hochrechnen können. In jedem Fall müssen sich die Fahrzeughaltenden nicht vorsorglich einen Vorrat an Fahrrädern anlegen.
Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM