Die Mission der »Streuspanne« wurde 2018 von Blogbegründer Sascha Feth so formuliert: »Ich möchte vor allem Ingenieurinnen und Ingenieuren einen intuitiven Zugang zur Statistik verschaffen, ohne dabei mathematische Grundkenntnisse vorauszusetzen. Dazu schauen wir uns verschiedenste Themen aus ungewöhnlichen Blickwinkeln an.« Seitdem ist viel passiert. Zeit für ein Interview.
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Unseren Blog »Streuspanne« gibt es jetzt schon seit über zwei Jahren. Zeit für eine Zwischenbilanz direkt zu Beginn des Jahres. Im Gespräch blicken unsere Blogger Dr. Sascha Feth und Dr. Jochen Fiedler zurück, sprechen über Entwicklungen, Ziele, die Motivation dahinter und die statistische Zukunft.
Das Interview führt Esther Packullat aus dem Team Kommunikation des Fraunhofer ITWM.
Sascha Feth:
Statistik hat nicht gerade den Ruf, besonders unterhaltsam zu sein. Das sehen unsere Kundinnen und Kunden in der Fahrzeugindustrie meist auch so. Wir wollten Nicht-Statistiker:innen die Themen auf entspannte und unterhaltsame Art näherbringen. Dann kam Corona und wir haben Parallelen zu Statistik bei Fahrzeugen gesehen. Wo wir uns sonst mit Datenlücken in Garantie- und Kulanzdaten beschäftigen, waren es jetzt fehlende Daten rund um milde Corona-Verläufe, die nicht gemeldet wurden.
Wir waren selbst überrascht von dem großen Interesse der ersten Corona-Posts und haben uns dann entschlossen, weiter an dem Thema zu arbeiten.
Jochen Fiedler:
Ich hatte mich schon relativ zu Beginn der Pandemie mit diversen Statistiken und Zahlen auseinandergesetzt, vor allem auch um für mich persönlich einzuordnen, was da gerade passiert. Da kam die Möglichkeit, sich auch sozusagen beruflich damit auseinanderzusetzen und statistische Auswertungen näherzubringen, sehr gelegen, weswegen ich auch sehr gerne beim Blog dabei bin.
Jochen Fiedler:
Mir hat die Pandemie das komplizierte Zusammenspiel zwischen statistischer Abbildung der Realität und deren Bedeutung sehr deutlich vor Augen geführt. Letztlich versuchen wir als Statistiker auch nur Aspekte der Realität abzubilden; was das konkret bedeutet oder was daraus folgen sollte, ist damit aber noch lange nicht gesagt. Als Beispiel: Es gibt diverse Menschen, die durch die recht klein wirkende statistische Gesamtsterblichkeit die Harmlosigkeit von Corona ableiten wollen. Sie ignorieren aber immer wieder harte Fakten, wie beispielsweise, dass in Bergamo Verstorbene zu hunderten und tausenden von Lastwagen abtransportiert werden mussten und die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen war. An solchen Realitäten muss sich letztlich jede statistische Untersuchung messen lassen.
Sascha Feth:
Im Februar hielt ich es auch noch für eine Variante der Grippe, bei der vielleicht die Sterblichkeit einen Hauch höher sein könnte. Nach allem, was ich jetzt aus den Zahlen sehen kann, habe ich das unterschätzt. Ebenso hat es mir mal wieder gezeigt, wie leicht man auch groben Mist aus Daten herleiten könnte. Stellenweise das Gegenteil der Wahrheit. Auch das ist leider Statistik: Laien können damit sehr schnell falsche Aussagen ableiten.
Sascha Feth:
Ganz allgemein sind das natürlich so Dinge wie die Wirksamkeit der Impfung, ob man nach einer überstandenen Infektion immun ist usw. Aber auch kleinere Unklarheiten, wie z.B. ob es zwischen den Geschlechtern Unterschiede in der Sterblichkeit gibt usw. Hier müssen wir einfach abwarten, bis noch mehr Daten zur Verfügung stehen.
Jochen Fiedler:
Wir wissen sehr wenig darüber, wie Kontaktmuster aussehen, wie und wann sie sich verändern und was dafür alles Gründe sein können. In der ersten Welle haben die Maßnahmen hierzulande auch deswegen so gut funktioniert, weil relativ viel Angst vorhanden war, nach den frischen Bildern aus Italien. Dinge wie Angst lassen sich aber nicht ordentlich messen, weswegen es immer schwierig ist, den genauen Effekt einer Maßnahme vorherzusagen.
Wir wissen auch nicht, wie genau sich das durchschnittliche Testverhalten ändern kann. Über Weihnachten und Silvester gab es nur sehr wenige Tests, was verschiedene Ursachen hatte. Ohne die genauen Kenntnisse dieser Ursachen und deren Auswirkungen lässt sich aber aus den vorhandenen Daten kaum sinnvoll hochrechnen, wie viele Infektionen wirklich vorlagen.
Sascha Feth:
Leider überwiegend katastrophal! Sehr viele Leute fallen auf das Präventionsparadoxon rein oder es wird Ursache und Wirkung verwechselt. Es wird argumentiert, es sei doch alles nicht so schlimm. Und wenn die Ursache – also Corona – nicht so schlimm ist, dann brauchen wir doch nicht diese Maßnahmen gar nicht – also die Wirkung. Dabei sind es ja gerade die Maßnahmen, die als Ursache dafür sorgen, dass Corona nicht seine volle Wirkung entfalten kann.
Jochen Fiedler:
Mir stoßen da verschiedene Dinge sehr sauer auf. Beispielsweise erinnert die mediale Berichterstattung oft genug an einen Sportticker, wo wieder über die neuesten Ergebnisse und Rekorde berichtet wird. Wichtiger wäre mir eine einordnende und differenzierte Berichterstattung zu der aktuellen zahlenmäßig erfassten Dynamik der Pandemie und was diese verursachen könnte. Über die Feiertage zum Jahresende waren die Zahlen aus diversen Gründen nicht vergleichbar mit den Zahlen zum Beginn von Dezember. In der Berichterstattung sollte genau dies und die möglichen Gründe dafür dann eine deutlich höhere Priorität genießen, als das Verkünden der neuesten Zahlen, was nicht überall der Fall ist.
Sascha Feth:
Im Blog arbeiten wir nur mit einfachen Modellen, die nur zeigen, dass »das ganze Maßnahmenpaket wirkt«. Der Blog soll unpolitisch und unabhängig sein, weshalb wir hier nicht auf einzelne Maßnahmen im Detail eingehen wollen. Dabei muss man vorsichtig sein, was »wirken« bedeutet. Wird das Wachstum nur gebremst, wie es im November war, oder braucht man härtere Maßnahmen, um die Zahlen wieder zu senken.
Jochen Fiedler:
Wie Sascha schon sagt, ist der Blog da relativ neutral, ohne konkrete Wertung. Das liegt auch daran, dass der ganz konkrete Einfluss von Maßnahmen sehr schwierig zu erfassen ist, weil eine Maßnahme immer nur im Zusammenspiel mit der Bereitwilligkeit der Bevölkerung diese umzusetzen ihre Wirkung entfalten kann. In anderen Projekten versuchen wir die empirischen Auswirkungen der Maßnahmen zu berücksichtigen und basierend darauf Vorhersagen zu modellieren.
Generell kann man aber aus den Erfahrungen anderer, halbwegs mit Deutschland vergleichbarer Länder wie bspw. Schweden sagen, dass es notwendig ist, Maßnahmen zu ergreifen, um die Härten der Pandemie abzumildern.
Sascha Feth:
Das sind ganz unterschiedliche und wir bemühen uns auch, alle zu beantworten. Oft sind es Rückfragen zum Verständnis oder über die Situation in anderen Ländern, weil dort z.B. Familie oder Freundinnen und Freunde wohnen. Leider sind manchmal aber auch Änderungswünsche dabei, mit denen die Artikel bewusst verwässert werden sollen. Damit soll dann vermutlich eine gegenteilige Position gestärkt werden. Während wir inhaltliche Rückmeldungen immer prüfen, lassen wir uns aber nicht instrumentalisieren.
Jochen Fiedler:
Es gab auch Fragen zu der Aussagekraft der Antigen-Schnelltests und worauf man insbesondere achten sollte, wenn man durch solche Tests Infektionen möglichst sicher ausschließen möchte. Da war dann die statistische Antwort, dass es in erster Linie auf die Sensitivität des Tests ankommt – je höher die ist, desto sicherer kann man sich sein, dass eine negativ getestete Person auch keine Infektion hat. Eine wichtige Erkenntnis ist aber auch da, dass der Test alleine nicht die ganze Realität abbilden kann. Wenn eine Person mit Symptomen Kontakt zu Infizierten hatte, dann ist deren negatives Testergebnis viel weniger zuverlässig, als das einer symptomlosen Person, die seit Wochen kaum Kontakte zu anderen Menschen hat. Auch hier ist es wieder nicht so ganz einfach, rein statistische Größen mit Bewertungen der realen Situation in Verbindung zu bringen.
Sascha Feth:
Ein purer wissenschaftlicher Beitrag hat nur einen Auftrag: Informationen übermitteln. So nüchtern und objektiv wie möglich. Meistens können den auch nur Fachleute interpretieren. Ein Blogbeitrag hingegen soll die Erkenntnisse mehr Menschen zugänglich machen. Da darf man auch mal »schlampig« im wissenschaftlichen Vokabular sein, sofern es dem Verständnis dient. Besonders wichtig ist mir aber zu sagen: Ein wissenschaftlicher Aufsatz kann geeignet sein, um politische Entscheidungen abzuleiten. Ein Blogbeitrag ist das nie. Deshalb bilden wir im Blog nie alle Details ab, die wir in den Projekten erarbeiten. Das würde eine Möchtegerngenauigkeit in zu schmalem Kontext liefern.
Jochen Fiedler:
Genau, bei einem Blog liegt das Hauptaugenmerk auf einer möglichst breit verständlichen Aufbereitung von Sachverhalten. Gerade in der Statistik ist das oft nicht so einfach, weil einige Zusammenhänge etwas versteckt sind und nicht sofort ersichtlich – da kommt man auch als Statistiker gerne mal durcheinander. Als Beispiel: Kein Testergebnis steht für sich allein, weil kein Test immer fehlerlos ist. Damit muss man aber immer zusätzliche Informationen berücksichtigen und schauen, wie die sich auf die Interpretation des Ergebnisses auswirken.
Jochen Fiedler:
Gerade bei politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen gibt es immer wieder statistische Argumente, die da sehr platt und simpel interpretiert werden. Da finde ich eine Einordnung in einen größeren Kontext immer sehr wichtig, weil man sonst gerne mal von den reinen Zahlen »erschlagen« wird. Sowas passiert gerne mal bei Diskussionen über Kriminalität, wo diese oder jene Statistik herangezogen wird, um zu zeigen, wie schlimm die Gesellschaft geworden ist. Dabei werden aber oft viele Aspekte ignoriert, wie beispielsweise die zeitliche Entwicklung der Zahlen, die gesetzliche Definition des Delikts oder auch die gesellschaftliche Wahrnehmung des Sachverhalts.
Sascha Feth:
Ich wähle die Themen momentan am liebsten als Reaktion auf seltsame Social-Media-Beiträge aus. Der Schwangerschaftstest bei Männern war da so ein Beispiel, der uns zur Mini-Serie über Sensitivität und Robustheit motiviert hat. Es wird daher auch weiterhin viele Beiträge geben, die falschlaufende Diskussionen ins richtige Licht rücken sollen.
Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM