Wenn ein Bauteil beispielsweise im Fahrzeug frühzeitig versagt, besteht für die Insassen Lebensgefahr! In seinem Blog-Beitrag erklärt unser Autor Sascha Feth heute, warum dabei sogar Fehlerbalken von Fehlerbalken bei Betriebsfestigkeitstests unbedingt berücksichtigt werden müssen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
© iStockphoto
Eine Kollegin hat mir kürzlich einen XKCD-Comic für diesen Blog zugesendet (Danke Kerstin!). Fehlerbalken für die Fehlerbalken – dahinter steckt mehr Wahrheit als man zunächst vermutet. Außerdem wäre ich ohne die doppelten Fehlerbalken arbeitslos.
Zunächst zum Comic. Jemand hat anscheinend zu verschiedenen Werten auf der x-Achse Messungen vorgenommen, die er auf der y-Achse abgetragen hat. Jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler fühlt sich dann dazu verpflichtet, Fehlerbalken einzutragen. Ist man sich nicht sicher, wie man Fehlerbalken berechnet, könnte man sie selbst mit Fehlerbalken ausstatten und ein nettes Fraktal entsteht.
Viele Fahrzeugbauteile, wie beispielsweise Teile des Fahrwerks, sind sicherheitsrelevant und dürfen nicht ausfallen. Schwere Unfälle wären sonst die Folge. Daher unterzieht man sie auf Prüfständen langwierigen Belastungstests, bis man sicher ist, dass sie den Anforderungen der Kundinnen und Kunden standhalten. Nun streut die Produktion leider. Zwei vermeintlich identische Bauteile werden beim exakt gleichen Prüfstandsprogramm (leicht) unterschiedliche Lebensdauern zeigen. Diese Streuung entspricht dem ersten Fehlerbalken.
Wäre dem nicht so, so würde jeder Freigabeprüfung mit einem einzigen Bauteil auskommen. Lebt es lange genug, so würde auch die restliche Produktion lange genug leben. Eine schöne Welt wäre das!
Anderseits: Gäbe es keinen Bedarf, die Bauteilfestigkeit statistisch zu erfassen, so würde meine heutige Arbeitsstelle in dieser Form gar nicht existieren. Dennoch habe ich natürlich Verständnis dafür, dass man sich in der Praxis diese Streuung wegwünscht.
Nun kommen die Kundin oder der Kunde ins Spiel. Er oder sie will eine gewisse (hohe) Anzahl an Kilometern ohne Bauteilausfall fahren können. Man sucht sich einen fordernden Referenzkunden, und will sich mit den Bauteillebensdauern möglichst rechts von diesem Kunden aufhalten:
Welch ein Glück! Der Mittelwert der erreichten Lebensdauer liegt mindestens zwei Sigma vom Referenzkunden entfernt. Falls die Lebensdauern also einer Normalverteilung folgen würden (tun sie nicht, aber das tut jetzt nichts zur Sache), wüssten wir jetzt, dass höchstens circa 2,3 Prozent der Bauteile kürzer leben, als der Referenzkunde es fordert.
Doch jetzt kommt die Krux: Wie sicher sind wir uns eigentlich bei der Berechnung von Mittelwert und Streuung (sprich Sigma oder auch Standardabweichung)? Hier kommen diese beiden Werte aus nur sechs Daten, und bringen deshalb eine hohe Unsicherheit mit. Für die fortgeschrittenen Leser: Wir müssten jetzt mithilfe der t- und Chi-Quadrat-Verteilung Konfidenzintervalle ausrechnen. Und schon bekommt unser grüner Mittelwert einen Fehlerbalken, ebenso wie die Streuung (die wir selbst schon als Fehlerbalken dargestellt hatten):
Abschließend müssen uns überlegen, was das im schlimmsten Fall bedeutet: Der Worst-Case-Mittelwert trifft auf die Worst-Case-Streuung.
Langsam wird unsere Grafik richtig voll, man kann aber dennoch erkennen was passiert: Wenn man die Worst-Case-Streuung auf den Worst-Case-Mittelwert überträgt, landet man bedrohlich nah am Referenzkunden. Plötzlich trennen uns nur noch circa 1,2 Worst-Case-Sigmas vom Referenzkunden. Das würde circa 15 Prozent an Bauteilen entsprechen, die der Kundin oder dem Kunden nicht standhalten. Deutlich mehr also als die 2,3 Prozent von vorhin, als wir die Fehlerbalken ignoriert haben. Das ist in der Realität natürlich unverantwortlich.
Wer sicherheitsrelevante Bauteile freigeben möchte, der muss
| Bei echten Lebensdauerdaten kommen einige zusätzliche Herausforderungen dazu. Die Daten sind nicht normalverteilt (sondern zum Beispiel weibullverteilt), wurden nicht immer bis zum Ausfall geprüft (sogenannte zensierte Daten), die Formeln zur Berechnung der Konfidenzintervalle von Lage- und Streuparameter sind kompliziert und meistens nicht analytisch formulierbar. Einfach so Fehlerbalken addieren geht schon mal gar nicht, sondern es muss mindestens eine korrekte Fehlerfortpflanzung (= »error propagation«, also genau das, was der XKCD-Autor nicht souverän beherrscht) gerechnet werden. Von den Fragen, welche Konfidenz wir verwenden, was eine tolerierbare Ausfallwahrscheinlichkeit ist, sowie wie man überhaupt zu dem Auslegungskunden gelangt ganz zu schweigen. |
Wenn es einfach wäre, würde man mich auch gar nicht brauchen. Lucky me.
Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM