Corona-Maßnahmen beibehalten oder lockern? ITWM stellt neues Tool zur Entscheidungsunterstützung bei Healthcare Hackathon vor

Interview mit den Entwicklerinnen und Entwicklern

Zwei drängende Fragen beschäftigen derzeit die Bevölkerung und vor allem auch Entscheidungstragende: Wie wird sich die Corona-Epidemie ausbreiten und welche Maßnahmen zu ihrer Eindämmung sind angemessen und wirkungsvoll? Um lokale Entscheidungstragende bei der Planung ihrer Maßnahmen zu unterstützen, arbeiten drei Abteilungen des Fraunhofer ITWM im Rahmen des Anti-Corona-Programms der Fraunhofer-Gesellschaft an einem Tool zur Entscheidungsunterstützung namens EpideMSE. In ersten Screencasts des Simulators zeigen sie, welche Funktionalitäten das EpideMSE-Tool hat. Unsere Expertinnen und Experten Michael Helmling, Johanna Schneider und Neele Leithäuser beantworten im Interview Fragen rund um die Software.

Im Projekt EpideMSE arbeiten Sie an einem neuen Tool zur Entscheidungsunterstützung während der Corona-Pandemie. Für welche Entscheidungen soll das Tool Hilfestellung bieten?

Michael Helmling: Das EpideMSE-Tool liefert Informationen zum Verlauf der Epidemie, Schätzungen zur Dunkelziffer sowie Prognosen zum weiteren Epidemie-Verlauf, die auch die Auswirkungen von Maßnahmen bzw. deren Lockerungen berücksichtigen. Das Tool soll entscheidende Fragen beantworten, z.B:

  • Wie gefährlich ist eine Erhöhung der Reproduktionsrate für eine bestimmte Region?
  • Wie tief muss sie bleiben, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten?
  • Wie viele Tests müssen durchgeführt werden, damit der Infektionsverlauf nicht im Verborgenen entgleitet?

 

Welche Informationen stellen sich die Nutzerinnen und Nutzer genau zusammen? Wie kann man sich das Tool denn in der Praxis vorstellen?

Johanna Schneider: Das Tool besteht aus mehreren Teilen: dem Epidemie-Verlauf, der Dunkelziffer-Schätzung, der Prognose und der Maßnahmenanalyse. Wir haben Screencasts erstellt, die einen ersten Einblick in das Tool geben.

Jeder Entscheidungstragende braucht einen Überblick über den Verlauf der Epidemie. In der EpideMSE-Software können Bundesländer oder wahlweise Landkreise auf der Landkarte nach Infektionsrate, Neuinfektionen oder Sterberate eingefärbt werden. Dadurch erhalten die Nutzenden einen schnellen Überblick, wie es in Deutschland und in den Regionen aussieht. Wählt die Person eine Region aus, stellen wir weitere Details in einer Tabelle und den zeitlichen Verlauf in Charts bereit.

Eine grundlegende Frage ist, wie viele Personen tatsächlich schon mit Covid-19 infiziert sind oder waren. Diese Dunkelziffer schätzen wir für jede Region mit statistischen Verfahren und auf Basis der erfassten Daten. Der Nutzer kann auf der eingefärbten Landkarte mit einem Blick sehen, wie hoch die Entdeckungsrate, d.h. der Anteil der positiv Getesteten an allen Infizierten, in seiner Region ist. Außerdem kann er sich die Anzahl der verdeckt Infizierten je Altersgruppe oder im zeitlichen Verlauf anschauen.

Die wohl wichtigste Frage ist: Wie wird es weitergehen? Mithilfe einer Simulation prognostizieren wir den Epidemie-Verlauf für die aktuelle Situation. Dabei kann der Nutzer die Simulation nicht nur deutschlandweit, sondern auch gezielt für sein Bundesland oder seinen Landkreis durchführen. Aktuell berechnen wir den erwarteten Kurvenverlauf für Infizierte, Todesfälle und für die Reproduktionsrate. Hier sollen aber noch mehr Informationen wie z.B. die Intensivbetten-Auslastung hinzukommen.

 

Neben der Prognose der aktuellen Situation ist natürlich die Entwicklung mit diversen Maßnahmen oder Lockerungen entscheidend. Diese können in der EpideMSE-Software vom Nutzenden frei konfiguriert werden. Wesentlich dabei ist, ab wann welche Infektionsrate im Modell zugrunde gelegt werden soll. Im Ergebnis stellen wir dann den simulierten Verlauf mit Maßnahme der Prognose ohne Maßnahme gegenüber. Die Auswirkungen von Maßnahmen können somit schon im Vorfeld abgeschätzt und verglichen werden.

Welche Daten verwenden Sie für die Simulationen?

Michael Helmling: Für die Simulationen nutzen wir Daten mehrerer Quellen: die offiziellen Daten des Robert-Koch-Instituts auf Landkreisebene, täglich aktualisiert über API-Abruf vom NPGEO-Corona Hub 2020, die Bevölkerungsdaten des statistischen Bundesamts, die Populationszahlen nach Altersgruppe von Eurostat und die Anzahl sozialer Kontakte nach einem Modell von Joël Mossong (Mossong et. al. 2008). Auch die Daten der Johns-Hopkins-Universität fließen mit ein, z.B. um zeitunabhängige Parameter wie die mittlere infektiöse Zeit zu identifizieren.

An wen richtet sich das neue Tool zur Entscheidungsunterstützung?

Michael Helmling: In erster Linie möchten wir politische Entscheidende auf lokaler Ebene unterstützen, z.B. Landräte und Landrätinnen oder Gesundheitsämter, die lokale Entscheidungshilfe brauchen, um den Epidemie-Verlauf für die Bürgerinnen und Bürger ihrer Kommune besser einschätzen zu können.

 

Was ist das Besondere an dem EpideMSE-Tool?

Neele Leithäuser: Aktuell können einerseits historische Daten – wie in vielen Datenportalen – georeferenziert angezeigt werden. Weiterhin kann aber auch die Dunkelziffer auf lokaler Ebene geschätzt werden. Dies basiert auf statistischen Missing-Data-Verfahren, die von unseren Expertinnen und Experten der Abteilung Mathematik für die Fahrzeugentwicklung durchgeführt werden. Dabei wird untersucht, ob unterschiedliche Sterblichkeitskeitsstatistiken, die nicht durch biologische Faktoren erklärt werden können, durch Dunkelziffern angeglichen werden können.

Michael Helmling: Durch das SEIR-ähnliche Prognosemodell, dass von den Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Transportvorgänge entwickelt wurde, kann der weitere Epidemie-Verlauf auf lokaler Ebene abgeschätzt werden. Dabei wird auch der Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Auswirkungen aufgezeigt.  

Johanna Schneider: Natürlich können Kommunen, die mit uns kooperieren wollen, auch Wünsche äußern. Wir sind offen für weitere Ideen und möchten das Tool dahingehend optimieren, dass es den Entscheidungstragenden genau die Informationen liefert, die sie benötigen. Daher haben wir uns entschlossen, den Prototypen des EpideMSE-Tools beim Healthcare Hackathon in Mainz in einem Workshop vorzustellen.

Werfen wir einen Blick in die nähere Zukunft: Was ist weiterhin geplant?

Johanna Schneider: Wir haben bereits mit Arbeiten begonnen, die die Prognose der Ausbreitung von Covid-19 in Deutschland verbessern. Momentan wird in dem EpideMSE-Tool der Epidemie-Verlauf für alle Menschen eines Gebiets gemeinsam simuliert. Im nächsten Schritt wollen wir jedoch die Bevölkerung zusätzlich in Altersgruppen teilen und ihre unterschiedlichen Infektionsrisiken bei den Prognosen mitberücksichtigen. Weiterhin sollen die Auswirkungen des Epidemie-Verlaufs auch näher am Gesundheitssystem evaluiert werden, d.h. die Prognosen umfassen auch die Belastung der Intensivstationen.

Michael Helmling: Eine deutliche Verbesserung der Prognose-Qualität erwarten wir auch dadurch, dass wir Regionen miteinander verknüpfen. Vielleicht mag eine typische Pendlerstadt heute wenig Neuinfektionen haben, morgen kann dies leicht wieder anders aussehen, wenn Neuinfektionen von den Pendelnden mitgebracht werden. Und das gilt natürlich auch umgekehrt. Mobilität ist ein entscheidender Faktor bei der Weiterverbreitung von Infektionen und das wollen wir in das EpideMSE-Tool einbauen.

 

Abschließend ein Blick in die weitere Zukunft: In welchen Bereichen könnten die Methoden des Tools noch hilfreich sein?

Neele Leithäuser: Momentan befindet sich Deutschland in einer Phase, in der wir schnell und entschlossen auf die Corona-Krise reagieren mussten. Forschende vermuten jedoch, dass der SARS-CoV-2-Virus nicht mehr verschwindet und wir im Herbst mit einer zweiten Infektionswelle rechnen müssen. Wir wollen die Vorbereitungen für die Bekämpfung der nächsten Infektionswelle unterstützen. Dazu entwickeln wir mathematisch fundierte Strategien, wo und bei welchen Personengruppen auf Corona getestet werden sollte, um die vorhandenen Testkapazitäten möglichst effizient auszunutzen. Das Gleiche gilt für den hoffentlich eintretenden Fall, dass ein Impfstoff entwickelt wird. Auch da stellt sich – neben der ethischen – die logistische Frage, welche Personengruppen wo zuerst geimpft werden sollten. Eine Frage, die mit Mathematik sehr gut beantwortet werden kann.