Langlebigkeit: Stochastische und Machine-Learning-basierte Modellierung

Fortschritte in der medizinischen Forschung, technologische Entwicklungen und eine generelle Verbesserung der Lebensumstände führen – insbesondere in Industrienationen – zu einem kontinuierlichen Rückgang der Sterblichkeit. Beispielsweise ist die Lebenserwartung weiblicher Neugeborener in Westdeutschland von 73,8 Jahren (1967) über 79,6 Jahre (1992) auf 83,3 Jahre (2017) angewachsen.

Lebenserwartung
© Grafik: Fraunhofer ITWM; Datenquelle: www.mortality.org, abgerufen 20.08.2019
Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt in Westdeutschland nach Geschlecht über die letzten 50 Jahre.

Unerwarteter Rückgang der Sterblichkeit birgt finanzielles Risiko

Während diese Entwicklung grundsätzlich erfreulich ist, kann sie für Rententräger wie Versicherungen und Pensionskassen – ähnlich wie das Zinsrisiko – eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen: Erweisen sich die biometrischen Rechnungsgrundlagen als falsch und leben die Pensionäre/Pensionärinnen im Schnitt länger als vorab kalkuliert, so kann dies zum Ruin und damit zum Ausfall des Rententrägers führen. Im Jahr 2014 wurde die potentielle Gesamtgröße des globalen Marktes für dieses sogenannte Langlebigkeitsrisiko bei Pensionen auf zwischen 60 und 80 Billionen Dollar geschätzt. Das Thema hat neben der versicherungswirtschaftlichen und akademischen auch hohe gesellschaftliche Bedeutung.
 

Modellierung von regionalen und zeitlichen Unterschieden

Grundlage jeder praxisorientierten Analyse von Langlebigkeitsrisiko sind realistische, biologisch sinnvolle Modelle für Sterblichkeit, die nicht wie die klassischen Mortalitätsmodelle und Sterbetafeln ausschließlich vom Lebensalter, sondern außerdem von der Zeit abhängen. In der Literatur gibt es dazu verschiedene Ansätze, unter denen der von Lee und Carter (1992) zu den am häufigsten verwendeten zählt und heute noch weiterentwickelt wird. So erscheint es in Zeiten der Globalisierung mit international operierenden Finanz- und Versicherungskonzernen angemessen, die Pensionäre/Pensionärinnen beispielsweise anhand ihres Wohnorts in mehrere Gruppen aufzuteilen. Dies führt auf sogenannte Mehrpopulationenmodelle.
 

Verbesserung von Modellen durch Machine Learning

Auch ein verstärkt datengetriebenes Vorgehen erscheint zeitgemäß – so untersuchen etwa Richman und Wüthrich (2018) eine Erweiterung des Lee-Carter-Modells mittels neuronaler Netze und erhalten äußerst konkurrenzfähige Ergebnisse. Eine derartige Kombination stochastischer Modelle mit Machine-Learning-Techniken im Sinne einer Grey-Box-Modellierung kann geeignet sein, die bisherigen Standards zu verbessern.

Methodisch kommen neben vorwärtsgerichteten und rekurrenten neuronalen Netzen unter anderem baumbasierte Verfahren wie Random Forests oder Gradient Boosting in Frage. Konkret arbeiten wir derzeit an einer Verbesserung von Mehrpopulationenmodellen durch Clusteranalyse, ein Verfahren aus dem Bereich des Unsupervised Learning (unüberwachten Lernens).
 

Absicherung gegen Langlebigkeitsrisiko

Zur Absicherung (Hedging) gegen Langlebigkeitsrisiko ist prinzipiell ähnlich wie beim Zinsrisiko eine breite Palette an Finanzprodukten denkbar. Diese Produkte können an die Mortalitätsentwicklung des konkreten Versichertenbestandes geknüpft sein, was jedoch aufgrund der schwierigen Bewertbarkeit zu Illiquidität der Produkte führt. Alternativ können sie auf einem Index basieren, der von einer bestimmten, größeren Referenzpopulation abhängt.

Problematisch aus Sicht des Rententrägers ist dabei das auch bei vergleichbaren Produkten wie zum Beispiel Wetterderivaten oder Katastrophenanleihen auftretende Basisrisiko: Weicht die zukünftige Mortalität des eigenen Vertragsportfolios von der Referenzpopulation ab, kann dies den Umfang der Absicherung reduzieren. Zuverlässige Sterblichkeitsmodelle ermöglichen eine belastbarere Quantifizierung dieses verbleibenden Risikos und erlauben einen angemessenen Umgang damit.