Sollten wir jetzt nicht besser wissen, wie effektiv die Impfung ist? Unsere bloggenden Statistiker Sascha Feth und Jochen Fiedler besprechen statistische Grundlagen zum Thema Impfeffektivität. Der passende Blogpost zum Nachlesen zur Podcastfolge.
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In unserem Podcast haben wir bereits darüber gesprochen, wie die Impfeffektivität berechnet wird. Dabei haben wir uns hauptsächlich auf die Zulassungsstudien bezogen. Mittlerweile sind Millionen von Menschen geimpft und wir haben viele neue Daten. Sollten wir jetzt nicht besser wissen, wie effektiv die Impfung ist?
Nachdem nun seit Dezember 2020 alleine in Deutschland Millionen von Menschen geimpft wurden, gab es in Folge dessen viele Berichte über beobachteten Effektivitäten der Impfungen als Maß für die Wirksamkeit. Teilweise waren diese ermittelten Effektivitäten dramatisch geringer, im Vergleich zu den Werten aus den Zulassungsstudien. So gibt es einen Report, wo nur noch von einer Effektivität von 39 Prozent gegen SARS-CoV-2 Infektionen, bzw. 40,5 Prozent gegen symptomatische Covid-19 Erkrankungen die Rede ist. Nur beim Schutz gegen Hospitalisierungen, bzw. schweren Verläufen wurde noch 90 Prozent Effektivität gefunden.
Belegen diese Werte einen gesunkenen Schutz aufgrund der Delta-Variante, bzw. die Tatsache, dass die ersten Impflinge bereits nicht mehr immun sind? So war etwa Israel eines der Länder, welches schon früh große Anteile der Bevölkerung vollständig geimpft hat. Doch Vorsicht, denn diese schnellen, plausibel-klingenden Schlussfolgerungen lassen noch einen Aspekt unberücksichtigt: Geimpfte verhalten sich nämlich vermutlich anders als Ungeimpfte, auch weil sie teilweise unterschiedliche Rechte haben, bzw. Hürden im Alltag erleben.
Zulassungsstudien von Impfstoffen betreiben viel Aufwand, damit es nicht zu Verzerrungseffekten kommt. Im Falle der Studie: Wer denkt geimpft zu sein, fühlt sich sicher, verhält sich anschließend für gewöhnlich sorgloser als Ungeimpfte oder Impflinge aus der Kontrollgruppe, die das Placebo erhalten haben und nicht wissen, was sie injiziert bekamen. Das unterschiedliche Verhalten würde sich dann mit Impfeffekten überlagern und es wäre unklar, was welchen Anteil an der Effektivität hat. Daher werden diese Studien randomisiert und doppelblind durchgeführt. Dadurch wissen weder Proband:innen, noch Ärztinnen und Ärzte, ob der echte Impfstoff oder das Placebo verabreicht wird. Weiterhin wird der Kontrollgruppe – also denjenigen, die nicht den zu untersuchenden Impfstoff erhalten – nicht nur eine Kochsalzlösung verabreicht, sondern etwa ein Impfstoff gegen eine andere Krankheit. Bei der Zulassungsstudie von AstraZeneca wurde beispielsweise teilweise ein Kombinationsimpfstoff gegen Meningokokken genutzt. Dadurch kommt es nicht zu systematisch unterschiedlichen Reaktionen auf die Injektion. Andernfalls könnte man von dem (Nicht-)Auftreten von Reaktionen (wie Fieber, Kopfschmerzen oder Schüttelfrost) Rückschlüsse darüber ziehen, ob man nun in der Placebo-Gruppe ist oder nicht. Darüber hinaus gibt es noch weitere Maßnahmen, wie beispielsweise das Abkleben der Spritzen, so dass man auch nicht aufgrund der Farbe Rückschlüsse auf den injizierten Stoff tätigen kann.
Aufgrund des betriebenen Aufwands kann man davon ausgehen, dass Kontroll- und Experimentalgruppe sich nicht signifikant unterschiedlich verhalten und die Infektionsraten der beiden Gruppen miteinander vergleichen. Sehr vereinfacht dargestellt lässt sich dann ein Schätzer für die Impfeffektivität über folgende Gleichung finden:
EImpf = 1 - AExperimantal / AKontroll
wobei AExperimantal der Anteil der Infizierten unter den Geimpften und Akontroll der Anteil der Infizierten unter den Ungeimpften ist. Eine Impfeffektivität von 90 Prozent bedeutet dann, dass der Anteil der Infizierten unter den Geimpften nur ein Zehntel von dem Anteil der Infizierten in der Kontrollgruppe beträgt.
Dieser Aufwand, der bei den Zulassungsstudien betrieben wird, zeigt, dass man Beobachtungen »im Feld«, also nach der Zulassung und Verimpfung des Wirkstoffes, mit mehr Vorsicht interpretieren muss. Zuerst muss man überlegen, welche Größe genau man sich ansieht. In den Medien wird oft der Anteil an Geimpften unter den Erkrankten genannt, welches für sich alleine eine sehr missverständliche Kennzahl ist. Als Beispiel: Sind in einer Population 100 Prozent der Menschen vollständig geimpft, so ist der Anteil unter den Infizierten ebenfalls 100 Prozent – unabhängig davon, ob die Impfeffektivität 0 oder 90 Prozent beträgt. Somit lässt sich aus diesem Anteil allein in keiner Weise ableiten, wie hoch die Impfeffektivität oder das individuelle Risiko eines Geimpften ist, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren.
Für diese beiden Größen, welche für die meisten Rezipient:innen deutlich interessanter sein dürften, benötigt man etwas mehr an Wissen. Nehmen wir aus didaktischen Gründen kurz an, dass sich Geimpfte und Ungeimpfte ähnlich verhalten und die Gruppen ähnlich zusammengesetzt sind – hinsichtlich Alter, Vorerkrankungen und anderen möglicherweise relevanten Faktoren. Dann ließe sich die Impfeffektivität wieder relativ leicht bestimmen: Man vergleicht analog zu den Zulassungsstudien den Anteil der Infizierten unter den Geimpften mit dem Anteil der Infizierten unter den Ungeimpften. Auch das individuelle Infektionsrisiko eines Geimpften lässt sich nun mit zusätzlichem Wissen grob und vereinfacht abschätzen, indem man den Satz von Bayes bemüht:
R = (AGeimpft und infiziert * Ainfiziert) / AGeimpft
Dabei ist AGeimpft und Infiziert der Anteil der Geimpften unter den Infizierten; AInfiziert der Anteil der Infizierten in der Gesamtpopulation, also die Prävalenz; und AGeimpft der Anteil der Geimpften in der Gesamtpopulation.
| Den Satz von Bayes haben wir – nachdem wir tief durchgeatmet haben – schon mal hier im Blog bemüht: Warum Sie nicht Aussagesicherheit sagen sollten |
Die obigen getroffenen Annahmen sind natürlich realitätsfremd. Zum einen wurden besonders ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen verstärkt geimpft, während es bei Kindern unter Zwölf noch gar keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Zum anderen wissen nun Geimpfte und Ungeimpfte über ihren Impfstatus Bescheid – anders als in den Zulassungsstudien. Das alleine wird oft schon unterschiedliche Verhaltensweisen auslösen. Dazu kommt, dass Geimpfte teilweise mehr Rechte, bzw. geringere Hürden haben, um öffentliche Orte oder Veranstaltungen zu besuchen oder Reisen zu unternehmen. Zum Beispiel mussen Ungeimpfte in Deutschland überall dort, wo die 3G-Regel gilt, einen Test durchführen (lassen), sofern sie nicht als genesen zählen.
Dieser Punkt wirkt auf den ersten Blick sehr plausibel und simpel, kann in der Realität aber recht komplex werden. Dies hängt damit zusammen, dass sowohl die individuelle Impfeffektivität als auch Kontaktzahlen von gemeinsamen Faktoren abhängen können, wie zum Beispiel das Alter. Für unser folgendes Gedankenspiel wollen wir annehmen, dass diese Effekte keine Rolle spielen. Weiterhin gehen wir von einer mittleren individuellen Impfeffektivität von 90 Prozent aus und nehmen weiterhin an, dass Geimpfte doppelt so viele Kontakte haben, wie Ungeimpfte.
Wie viele Kontakte benötigen nun im Mittel Geimpfte, um das gleiche individuelle Infektionsrisiko zu besitzen, wie Ungeimpfte? Die Antwort ist recht einfach: Zehnmal so viele, weil aufgrund der 90-prozentigen Impfeffektivität das individuelle Infektionsrisiko nur ein Zehntel pro Kontakt beträgt . Das würde dazu führen, dass der Anteil der Infizierten unter den Geimpften und Ungeimpften gleich ist, trotz einer sehr hohen Impfeffektivität! Wir gehen natürlich nicht davon aus, dass Geimpfte nun zehnmal so viele Kontakte haben wie Ungeimpfte. Doch wie sieht es mit kleineren Werten aus? Auch das lässt sich recht einfach berechnen: Haben Geimpfte doppelt so viele Kontakte, so infizieren sich in dieser Gruppe 80 Prozent weniger als in der Gruppe der Ungeimpften; haben sie dreimal so viele Kontakte, so sind es 70 Prozent, usw. Dabei ist es auch unerheblich, wie genau nun die Impfung wirkt: Also, ob 90 Prozent der Geimpften vollständig immun sind oder alle Geimpften individuell ein um jeweils 90 Prozent reduziertes Infektionsrisiko besitzen.
Was bedeutet das für Feldbeobachtungen? Wir müssen berücksichtigen, wie stark unterschiedlich sich Geimpfte und Ungeimpfte verhalten, z.B. bezogen auf ihre Kontaktzahlen. Diese Kontaktzahlen zu schätzen ist nicht sehr einfach und erfordert einiges an Aufwand. Der quantitative Einfluss ist damit schwierig seriös abzuschätzen. Gleichzeitig gehen wir nicht davon aus, dass sich die deutlich niedrigeren Impfeffektivititäten, im Vergleich zu den Zulassungsstudien, alleine durch unterschiedliche Sozialverhalten erklären lassen.
Behalten Sie bitte dennoch im Hinterkopf, dass Medienberichte über eine deutlich gesunkene Impfeffektivität, nicht ohne weiteres interpretiert werden können. Einfach die gleichen Formeln aus den kontrollierten Studien über die großen, schlechter strukturierten Felddaten zu stülpen, kann auch zu Nonsens führen. Anders formuliert: Zahlen werden nicht wahrer, wenn die Stichprobe (hier alle Geimpften) nur groß genug wird. Zu Risiken und (Neben-)Wirkungen fragen Sie bitte ihre:n Statistiker:in.
Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM